Schrank mit Fleisch und Sprechblasen

„Essen ist politisch“


aHEU.BLOG hat sich mit Prof. Dr. Gertrud Nunner-Winkler über die politische Dimension von Essen unterhalten //

Gertrud Nunner-Winkler ist Soziologin mit Leib und Seele. Sie hat ihr Leben lang vor allem zu Fragestellungen rund um die Moral geforscht und war auch Teil der 68er. Ich hatte das große Glück, daß sie trotz Ruhestands meine soziologische Diplomarbeit betreute. Ich habe von Getrud sehr, sehr viel gelernt. Mittlerweile sind wir befreundet und ich besuchte sie in ihrem Berliner Domizil anläßlich des „Das Symposium 2019“ von „Die Gemeinschaft“ (lest hier meinen Blick darauf). Ich erzählte Gertrud eingehend über das dort Erlebte und Erfahrene. Im Zug zurück nach Bayern dachte ich mir: „Hey, eigentlich hätte ich die Grundaussage des Symposiums in dem Satz ‚Essen ist politisch‘ zusammenfassen können.“ Aber dann fragte ich mich, was das eigentlich immer bedeutet, etwas sei politisch. Und diese und andere Fragen habe ich dann direkt der Gertrud gestellt.

aHEU.BLOG: Liebe Gertrud, was heißt denn „politisch“?

Gertrud: Politisch sind Themen, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen und für die man allgemeine Regeln sucht. Aber was heißt das für das Essen? Ist nicht, was ich esse und trinke, auch im wörtlichen Sinne ‚mein Bier‘? Ist das nicht Privatsache? Heute wohl eher nicht mehr. Heute ist es umstritten, wo genau die Grenze zwischen privat und öffentlich verläuft. Angefangen hat das, als Sozialwissesnschaftler das Mitmachen der Deutschen im Dritten Reich auch auf die damals übliche autoritäre Kindererziehung zurück führten. Die Wissenschaftler sagten: Wenn das private Umfeld der Kleinfamilie so weitreichende Folgen hat, dann wird Kindererziehung zu einem öffentlichen, eben zu einem politischen Thema. Und so wurden auch entsprechende Gesetze erlassen, etwa das elterliche Prügelverbot. Noch direkter benannte die Frauenbewegung das Problem. Mit ihrem Slogan: „Das Private ist politisch“ protestierte sie gegen die herschende Arbeitsteilung, die Frauen die Zuständigkeit für „Kinder, Küche, Kirche“ zuwies und das Handeln in der Öffentlichkeit den Männern vorbehielt. Ein Erfolg war dann das Verbot der Vergewaltigung in der Ehe. Das Tun im Ehebett galt vorher als privat und wurde nun öffentlich diskutiert. Auch hier verschob sich die Grenze zwischen privat und politisch und es wurden Gesetze geschaffen.

aHEU.BLOG: Also ist etwas „politisch“, wenn es öffentlich ist und wenn es gesamtgesellschaftlich geregelt ist, ich verstehe. Wie können wir nun verstehen, warum das Essen beziehungsweise was man ißt auf einmal zu einer politischen Frage wird?

Gertrud: Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens Tierrechte: Historisch hat sich der Anspruch auf Gleichbehandlung zunehmend erweitert. Zum Beispiel nicht nur Männer, nicht nur Weiße, sondern auch Frauen, auch Schwarze, forderten ein Wahlrecht. Heute wird diskutiert, ob nicht auch Tieren gewisse Rechte zustehen – zumindest das Recht, von vermeidbarem Leid verschont zu bleiben. So werden Vorschriften zu artgerechter Tierhaltung oder Verbote von Überzüchtungen begründet. Zweitens Klimaschutz, hoch aktuell: Es wird heiß diskutiert, inwiefern auch Viehhaltung und Landwirtschaft zum menschengemachten Treibhauseffekt beitragen. Bei Gütern aus fernen Ländern kommt noch der CO2-Ausstoß der Transportmittel dazu. Drittens Welternährung: Das rasante weltweite Bevölkerungswachstum verschärft die Lage noch, in bezug auf die Ernährung, aber auch in Bezug auf das Klima. Zusammengefaßt: Da die Interessen aller Menschen betroffen sind, bekommen bisher privaten Entscheidungen über Essen eine neue Dimension. Es sind nun politische Fragen, was man essen, wo es herkommen und wie es produziert sein soll.

aHEU.BLOG: Okay. Essen wurde also zum Politikum, weil wir alle nicht mehr nur täglich essen, sondern auch erkannt haben, daß unsere kleinen Alltagsentscheidungen eine große Wirkung für alle haben. Und daß diese Wirkungen zum Wohle aller beeinflußt werden sollen. Da frage ich mich jetzt, welche Folgen es hat, wenn man etwas als politisch erklärt. Was passiert da?

Gertrud: Also, das hat schon Folgen, wenn ein Thema „politisch“ wird. Es entzünden sich öffentliche Debatten.

  • Da werden ethische Argumente diskutiert wie zum Beispiel: „Tiere haben Rechte.“
  • Oder es werden Klugheitserwägungen vorgetragen: „Wir gefährden unser Klima.“
  • Besonders engagierte Personen führen dann vielleicht spektakuläre Aktionen durch wie beispielsweise Einbrüche in Tierlabors und Ställe sowie organisieren Demonstrationen wie „Fridays for future“.
  • So wird öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt. Die wird durch Medienberichte, eventuell auch durch wissenschaftliche Stellungnahmen wie „Scientists for future“ nochmal erheblich verstärkt.
  • Daraus können soziale Bewegungen, gar Parteien erwachsen wie die Grünen. Öffentlicher Druck wird erzeugt. Und der kann durchaus wirken. Die Politik sieht sich – im Interesse einer Wiederwahl – genötigt, einschlägige Regelungen zu diskutieren und bestenfalls auch durchzusetzen. Zum Beispiel die Kennzeichnungspflicht für die Herkunft von Produkten, für Haltungsbedingungen von Tieren, für biologische Erzeugung, eine Verteuerung von Fleisch per Steuer oder auch die Einführung eines ‚Veggidays‘. So entstehen auch neue Märkte wie für Bioprodukte, für regionale Produkte, … Und Betriebe werben dann mit ihren besonderen Produktionsbedingungen wie Freilauf bei Hühnern oder „aus Küken-schredderfreier Haltung“.
    Im Endeffekt zeigt es sich bei mir bei Partygesprächen oder allgemein bei Diskussionen im Freundeskreis, dass die ‚guten‘ (???) alten Zeiten, in denen man noch – ohne ‚Scham‘ – fliegen durfte, und man noch essen durfte, worauf man Lust hatte, ohne sich rechtfertigen zu müssen, wohl vorbei sind…

aHEU.BLOG: Ah, bei der Scham, der Lust und der Rechtfertigung möchte ich nochmal einhaken.
Die vorher genannten Dinge werden durch Politisierung also öffentlich thematisiert. Und führt das dann im persönlichen/privaten Bereich dazu, sich zu schämen, zu rechtfertigen, die Lust nicht oder nur heimlich auszuleben? Oder wie wirkt das?

Gertrud: Faktisch gibt es eine große Kluft zwischen moralisierender Rede und tatsächlichem Handeln. Um nur ein Beispiel zu geben: In Deutschland hat im letzten Jahr die Sorge um das Klima stark zugenommen, zugleich aber ist die Zahl der Flüge um mehr als 5% gestiegen. Die Betroffenen wissen um das Problem, denn nur 14% sagen, sie selbst täten genug für den Klimaschutz.
Nun glaube ich allerdings nicht an ein heimlich-lustvolles Ausleben der öffentlich gebrandmarkten Bedürfnisse. Ich denke vielmehr, es gibt eine rationale Erklärung für den Widerspruch. Jeder einzelne kann oder muss sich sagen: „Mein Verzicht – etwa auf einen Flug – bedeutet für mich eine erhebliche Einschränkung, leistet aber einen völlig vernachlässigbaren Beitrag zur Rettung des Klimas.“ Das bringt nur etwas, wenn auch andere sich einschränken und dazu braucht es geteilte, also gemeinsame Regeln. Das Schämen und das Einfordern von Rechtfertigungen im privaten Bereich dient dem Bewußtseinswandel, der dann – siehe oben – politischen Druck erzeugen kann.

aHEU.BLOG: Liebe Gertrud, ich danke Dir, daß Du Dir die Zeit genommen hast, mir meine Fragen zu beantworten!

Und vielleicht hat es auch Euch etwas gebracht? Das würde Gertrud und mich freuen.

Zwei Frauen in Liegestühlen
Gertrud und ich sehr photogen beim Chillen am Spreestrand (;

Heike, 18. Dezember 2019


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